Hyperpatriotismus im ostasiatischen Konflikt
Bei dem Streit um die Inselgruppen im ostasiatischen Raum setzen China und Südkorea auf den nationalistischen Geist. Doch ist dieser erst einmal aus der Flasche entwichen, ist er schwer zu steuern. Von Yuriko Koike
Japan will mit China keine Kompromisse eingehen
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Quelle: Reuters In Inselstreit mit China will Japan nach Angaben von Regierungschef Yoshihiko Noda keinerlei Zugeständnisse machen. Die harte Linie bekräftigte Noda am Rande der UN-Vollversammlung in New York. Video teilen
Werden Politiker mit Sorgen im eigenen Lande konfrontiert, verlegen sie sich häufig auf ausländische Ablenkungsmanöver – ein simples Axiom, das bei der Beurteilung der zunehmend spannungsgeladenen Souveränitätskonflikte im Südchinesischen Meer hochgradig nützlich ist.
Obwohl China an den weitreichendsten und intensivsten Konflikten dieser Art beteiligt ist, ist der tragischste Streit jener zwischen Südkorea und Japan; schließlich sind beide Demokratien mit nahezu identischen strategischen Interessen. Am 10. August besuchte der südkoreanische Präsident Lee Myung-bak die Insel Takeshima (Koreanisch: Dokdo), die seit nunmehr 60 Jahren Gegenstand eines territorialen Disputs zwischen Japan und Südkorea ist.
Und bei einem Vortrag an der Korea National University of Education vier Tage später heizte er die Spannungen weiter an, indem er zum vorgeschlagenen Besuch des japanischen Kaisers äußerte: "Wenn er kommen will, sollte er sich erst für die Vergangenheit entschuldigen."
Der Hyperpatriotismus des südkoreanischen Präsidenten
© dapd Der südkoreanische Präsident Lee Myung-bak (M.) bei seinem Besuch der Insel Takeshima am 10. August 2012
Trotz seiner zahlreichen Leistungen als Präsident stellt Lee nun, gegen Ende seiner im Februar 2013 ablaufenden Amtszeit ostentativ eine nationalistische/anti-japanische Haltung zur Schau. Tatsächlich ist er diesbezüglich so vehement geworden, dass er sich geweigert hat, ein seinen Inselbesuch betreffendes Schreiben des japanischen Ministerpräsidenten entgegenzunehmen.
Lees Hyperpatriotismus ist neu. Vor nicht einmal zwei Monaten erreichte er eine Übereinkunft über den Austausch von Informationen im Bereich des militärischen Nachrichtenwesens mit Japan – ein Abkommen, das dann aus Angst, die Opposition würde den Präsidentschaftskandidaten seiner Partei wegen vorgeblicher Unterwürfigkeit gegenüber Japan angreifen, aufgegeben wurde.
Lees jüngstes Verhalten mag zudem seine Furcht widerspiegeln, dass er ein ähnliches Schicksal erleiden könnte wie frühere südkoreanische Präsidenten. Einige wurden ermordet, einer beging Suizid, und wieder andere wurden nach dem Ausscheiden aus dem Amt verhaftet und zum Tode verurteilt. Lee könnte die Verhaftung seines Bruders im Juli wegen Bestechungsannahme als Vorspiel zu einem derartigen Schicksal interpretiert haben.
Der Streit um die Insel Takeshima
Der Versuch, künftigen innenpolitischen Schaden abzumildern, indem man die Dynamik der Beziehung zwischen Südkorea und Japan – und die beider Länder zu den Vereinigten Staaten – unterminiert, ist unklug. Angesichts des anhaltenden Potenzials Nordkoreas, militärisch Unheil anzurichten, und der im Fluss befindlichen Sicherheitslage in Asien im Gefolge des chinesischen Aufstiegs könnte eine derartige Taktik unbeabsichtigte, aber ernste Folgen haben.
Die Ursprünge des Streits um Takeshima liegen in der Zeit unmittelbar vor Unterzeichnung des Vertrages von San Francisco im Jahre 1951, mit dem der Zweite Weltkrieg im Pazifik formell beendet wurde. Der Vertrag regelte die Grenzziehung für ein Gebiet, das u.a. Takeshima umfasste.
Doch der damalige südkoreanische Präsident Syngman Rhee führte – unter Verstoß gegen den Vertrag und das Völkerrecht – die sogenannte "Syngman-Rhee-Linie" ein, um ein großes Areal, zu dem auch Takeshima gehörte, abzugrenzen, in welchem Südkorea einseitig die Fischereigerichtsbarkeit beanspruchte.
Seit damals nutzt Südkorea das Problem als Mittel, um sein nationales Prestige in die Höhe zu treiben – und weigert sich im Bewusstsein der rechtlichen Fragwürdigkeit seiner Souveränitätsansprüche, die Sache dem Internationalen Gerichtshof zur Entscheidung vorzulegen.
Konflikt um Senkaku-Inseln
Beunruhigender jedoch ist der Souveränitätskonflikt zwischen Japan und China. Auch hier gibt es einen geschichtlichen Hintergrund. Die japanische Regierung gliederte die Senkaku-Inseln 1895 in das japanische Staatsgebiet ein. Seitdem sind die Inseln ohne Unterbrechung in japanischem Besitz.
Tatsächlich war dort sogar einmal eine Fabrik in Betrieb, die getrockneten Thunfisch herstellte, und Uotsuri, die größte der Inseln (sie ist etwa so groß wie der Central Park in New York City) hatte mehr als 200 Bewohner.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gingen die Inseln gemäß Artikel 3 des Vertrags von San Francisco in die Kontrolle der USA über, fielen dann jedoch 1972 im Rahmen des Vertrages, der Okinawa wieder unter japanische Verwaltung stellte, an Japan zurück.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatten weder China noch Taiwan Einwände geäußert. Im unter Mao Zedong veröffentlichten Chinesischen Weltatlas von 1960 sind die Senkaku-Inseln als Teil von Okinawa dargestellt.
Und obwohl sich die Umstände 1968 änderten, als im Rahmen einer Studie der Wirtschafts- und Sozialkommission der UNO für Asien und den Pazifik große Mengen an Rohstoffen Meer um die Inseln entdeckt wurden, waren die periodisch auftretenden Spannungen zu bewältigen.
China spielt die nationalistische Karte aus
Diese Dynamik änderte sich, als vor drei Jahren die Demokratische Partei Japans an die Macht kam. Das inkompetente Lavieren der DPJ bei der Verlängerung des Pachtvertrages für einen Stützpunkt der US-Marineinfanterie auf Okinawa signalisierte der Welt – und insbesondere China –, dass die Partei den Wert des Bündnisses mit den USA und der amerikanischen Sicherheitsgarantie nicht gleichermaßen hoch schätzte wie frühere Regierungen.
Infolgedessen hat China seitdem immer wieder Japans Entschlossenheit und Amerikas Zusicherungen auf die Probe gestellt, auch wenn US-Außenministerin Hillary Clintons jüngste, resolute Bestätigung des Bekenntnisses ihres Landes zur Sicherheit Japans alle diesbezüglichen Unsicherheiten ausräumen dürfte.
Zugleich dürften Spannungen in China selbst – insbesondere der Skandal um die Absetzung des ehemaligen Chefs der Kommunistischen Partei von Chongqing, Bo Xilai, und der Wirtschaftsabschwung im Lande – die Regierung veranlasst haben, die nationalistische Karte vehementer als gewöhnlich auszuspielen.
Nationalistische, anti-japanische Ausschreitungen
Der anstehende Parteikongress zur Salbung der neuen Führung des Landes für das nächste Jahrzehnt verstärkt den Wunsch der Partei nach Manipulation der öffentlichen Emotionen.
Doch lässt sich der nationalistische Geist, hat man ihn erst einmal aus der Flasche entweichen lassen, nicht so einfach steuern. Einige gegen Japan gerichtete Demonstrationen – bei denen es zu Ausschreitungen, Plünderungen und der Zerstörung japanischer Betriebe kam – mutierten zu Protesten gegen die Regierung.
Indem sie zuließ, dass die sozialen Spannungen ein solches Maß erreichten, ist die chinesische Regierung möglicherweise auch für die jüngsten Krawalle, an denen tausende von Arbeitern des Foxconn-Werkes in Taiyuan beteiligt waren (wo Teile für Apples iPods und iPads gefertigt werden), mitverantwortlich.
Zusammenarbeit nach dem Vorbild der EGKS
Im Dezember wird Südkorea einen neuen Präsidenten wählen, und auch Japan dürfte in Kürze Neuwahlen abhalten. Die Regierungen, die aus diesen Wahlen hervorgehen, sollten ihr Mandat nutzen, um eine neue Form der Zusammenarbeit zu schmieden, die eine vergiftete Vergangenheit überwinden kann.
Als Beispiel kann dabei dienen, was Frankreich und Deutschland in den 1950er Jahren erreicht haben. Durch Etablierung einer gemeinsamen Souveränität in Bereichen, die für die nationale Sicherheit lebenswichtig waren – nämlich Kohle und Stahl –, legten die visionären Führungen beider Länder die Grundlage für Frieden und Sicherheit in Europa und überwanden zugleich eine lange Geschichte der Gegnerschaft.
Angesichts des Aufstiegs und der maritimen Ambitionen Chinas dürfen die beiden großen Demokratien Ostasiens nichts weniger anstreben. Im Erfolgsfall würden Südkorea und Japan damit einen Präzedenzfall schaffen, der den besten Weg hin zur Beilegung der Asien derzeit destabilisierenden großen Souveränitätsfragen böte.
Aus dem Englischen von Jan Doolan
Yuriko Koike war Verteidigungsministerin und Nationale Sicherheitsberaterin Japans. Sie ist ehemalige Vorsitzende der Liberaldemokratischen Partei Japans und führendes Mitglied der Opposition im japanischen Parlament
© Project Syndicate 1995–2012
© AFP Die Inselgruppe im Ostchinesischen Meer, in China Diaoyu und in Japan Senkaku genannt, liegen etwa 200 Kilometer vor der Küste Taiwans und rund 400 Kilometer von Japan entfernt. Das Archipel liegt strategisch günstig, die Gewässer gelten als besonders fischreich, und es werden Erdöl und Erdgas auf dem Meeresgrund vermutet |